- Kino der Regisseure: Pop und Politik seit den Sechzigerjahren
- Kino der Regisseure: Pop und Politik seit den SechzigerjahrenDas sich wandelnde politische Klima in den USA nach der Ermordung von Präsident Kennedy im November 1963, die nachlassende Bedeutung der Studios, die wachsende Anzahl unabhängiger Produzenten, der Einfluss europäischer Filme, das Entstehen des Undergroundfilms und des Direct cinema, schließlich die Verjüngung des Publikums hatten dazu beigetragen, dass sich neben dem illusionistischen, starzentrierten in den Sechzigerjahren ein sozialkritisches, regisseursorientiertes Kino in Hollywood entwickeln konnte. Die Protagonisten des »New Hollywood« hatten das Handwerk nicht im Studiosystem gelernt, sondern kamen von Filmschulen, vom Fernsehen oder aus kleinen Produktionsfirmen wie etwa der von Roger Corman: Als Regisseur und Produzent hatte er in den Fünfzigerjahren Genrefilme mit geringem Budget gedreht und war in den Sechzigern durch seine Horrorfilme nach Vorlagen von Edgar Allan Poe bekannt geworden. Viele Filmschaffende der Siebzigerjahre sammelten bei ihm erste praktische Erfahrungen, unter ihnen die Regisseure Francis Ford Coppola, Martin Scorsese und Jonathan Demme, die Schauspieler Jack Nicholson und Dennis Hopper, die Kameramänner Nestor Almendros und Laszlo Kovacs.Drei Filme der Sechzigerjahre bereiteten den Boden für das New-Hollywood-Kino: »Die Reifeprüfung« (1967) von Mike Nichols, »Bonnie und Clyde« (1967) von Arthur Penn und »Easy Rider« (1969) von Dennis Hopper. Sie erzählen von jungen Leuten, die sich den gesellschaftlichen Anforderungen verweigern. In »Die Reifeprüfung« hat ein College-Absolvent eine Affäre mit einer älteren Frau; der Production Code, der die Darstellung sexuellen und kriminellen Verhaltens einschränkte, war 1966 liberalisiert worden - bisher tabuisierter Sex konnte nun ebenso gezeigt werden wie extreme Gewalt. So erregte »Bonnie und Clyde« vor allem durch die ausgedehnte Zeitlupendarstellung vom Tod des titelgebenden Gangsterpärchens im Kugelhagel der Polizei Aufsehen. Während aber Nichols und Penn die narrativen Konventionen des traditionellen Hollywoodkinos beibehielten, brach Hopper mit linearen Erzählstrukturen: In »Easy Rider« fahren drei Männer auf Motorrädern quer durch die USA, reden, trinken, verkaufen und konsumieren Drogen. Schließlich fallen sie brutaler Gewalt zum Opfer. Diese drei Filme verwiesen thematisch und ästhetisch bereits auf die Siebzigerjahre: Die endgültige Abschaffung des Production Codes 1968 zugunsten eines Klassifizierungssystems im Sinne des Jugendschutzes löste eine Flut von Pornofilmen aus. Am Ende der Dekade ebbte sie bereits wieder ab, hatte aber die Integration ausgesprochener Sexszenen in die meisten Spielfilme zur Folge.Bonnie und Clyde wurden genauso zu Helden der jugendlichen Protestbewegung wie die Motorradfahrer aus »Easy Rider«. Der Film spiegelte zudem die Hippiekultur wider und war der Vorläufer einer ganzen Reihe von Roadmovies, die die Träume der Vietnamgeneration von Freiheit und Abenteuer symbolisierten.Der Vietnamkrieg selbst wurde erst in den späten Siebzigerjahren Filmthema: mit Hal Ashbys versöhnlicher Liebesgeschichte »Sie kehren heim« (1978), Michael Ciminos bitterer Anklage »Die durch die Hölle gehen« (1978) und Francis Ford Coppolas bombastischer Kriegsoper »Apocalypse Now« (1979). Coppolas Film, in dem zu Aufnahmen eines Hubschrauberangriffs auf ein vietnamesisches Dorf Wagnermusik erklingt, war bei der Kritik heftig umstritten.Einer der herausragenden Regisseure der Siebzigerjahre war Martin Scorsese, dessen erste Filme autobiographische Anklänge hatten: »Who's that knocking at my door?« (1968) und »Hexenkessel« (1973) spielen im italienischen Viertel New Yorks. Eine unruhige Handkamera vermittelt die Hektik des Großstadtlebens und die Nervosität der Figuren. 1976 folgte »Taxi Driver«, ein Porträt eines vereinsamten, beziehungsunfähigen Vietnamveteranen, mit dem Robert De Niros Starkarriere begann. Dieselben stilistischen Mittel wie in den Little-Italy-Filmen nutzte Scorsese in »Taxi Driver«, um das nächtliche New York als undurchdringlichen Dschungel zu zeigen, in dem der Protagonist jede Orientierung verliert. Ein freundlicheres Bild von New York zeichnen die ironischen Komödien Woody Allens. Mit »Der Schläfer« (1973), »Der Stadtneurotiker« (1977) und »Manhattan« (1979) griff der Regisseur ein Modethema der Siebzigerjahre, die Psychoanalyse, auf und problematisierte die eigene jüdische Sozialisation. Sowohl Scorseses als auch Allens Filme zeigen einen vom angelsächsisch-protestantischen abweichenden Lebensstil. Das durch die Bürgerrechtsbewegung geschärfte Bewusstsein für fremde Kulturen und Identitäten schlug sich auch in der Produktion von Genrefilmen mit ausschließlich schwarzer Besetzung nieder, »Blaxploitation«-Filmen, weil sie bekannte Genrekonstellationen ausbeuteten (»exploit«). Einer der ersten war der Detektivfilm »Shaft« (1971) von Gordon Parks. Diese Filme bereiteten die heute selbstverständliche Besetzung positiver Hauptrollen mit schwarzen Darstellern vor.Die Siebzigerjahre waren auch ein Jahrzehnt der »Blockbuster«, Produktionen mit extrem hohem Budget, das man durch enormen Werbeaufwand wieder einzuspielen hoffte. In Katastrophenfilmen wie »Airport« (1970), »Erdbeben« (1974) und »Flammendes Inferno« (1975) trieben vor allem aufwendige Spezialeffekte die Kosten in die Höhe. Als »Der weiße Hai« (1975) von Steven Spielberg und »Star Wars« (1977) von George Lucas über 100 Millionen Dollar einspielten und damit alle bisherigen Kassenrekorde brachen, wurden die beiden Regisseure, die ihre Filme auch selbst produzierten, zu Garanten für die Blockbuster-Politik, nach der hohe Investitionen durch noch viel höhere Einspielergebnisse gerechtfertigt wurden. Die Kritiker dieser Produktionspolitik sahen sich bestätigt, als Michael Cimino, der aufgrund des Erfolges von »Die durch die Hölle gehen« freie Hand bei seiner nächsten Produktion »Heaven's Gate« hatte, das Budget um mehr als 25 Millionen Dollar überschritt. Das dreieinhalb Stunden lange Siedlerepos wurde als strukturlos und unzusammenhängend kritisiert und sofort nach dem Start zurückgezogen. Es führte für den Produzenten United Artists zu einem der größten finanziellen Desaster der Filmgeschichte und beendete Ciminos Karriere. Am Ende der Siebzigerjahre hatte der »Mainstream« die Protagonisten von New Hollywood absorbiert und Themen, Genres und Ästhetik vereinnahmt.In der Bundesrepublik erlebte der »neue deutsche Film« in den Siebzigerjahren eine große Produktivität und Vielfalt. Seine bekanntesten Repräsentanten gehörten, abgesehen von Alexander Kluge und Edgar Reitz, nicht zu den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests. Sie waren Autodidakten, kamen von Theater, Fernsehen oder den Filmschulen in Ulm, München und Berlin. Bei aller Unterschiedlichkeit der Themen und Stile vereinte sie ihre kritische Haltung gegenüber der bundesdeutschen Gegenwart, die sich 1977, zu Zeiten der größten Terroristenhysterie, in dem von zehn Regisseuren inszenierten und gemeinsam produzierten Episodenfilm »Deutschland im Herbst« niederschlug. Die von den Filmemachern geübte Kritik am Zustand der Nation war einer der Gründe dafür, dass der »neue deutsche Film« im Ausland enthusiastischer aufgenommen wurde als in der Bundesrepublik selbst. Am Beginn des Jahrzehnts stand eine kurze Phase des neuen deutschen Heimatfilms: »Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach« (1971) von Volker Schlöndorff, »Mathias Kneißl« (1971) von Reinhard Hauff und »Jeder für sich und Gott gegen alle« (1974) von Werner Herzog waren sozialkritische Genreproduktionen im historischen Gewand, die an realen Schauplätzen in der Provinz spielten. An die Tradition des Heimatfilms knüpfte auch Edgar Reitz mit seinem Zyklus »Heimat« (1984) nochmals an.Volker Schlöndorff, Wim Wenders und Rainer Werner Fassbinder sind die renommiertesten Regisseure der Siebzigerjahre; sie hatten, wie Schlöndorff, vom französischen, oder, wie Fassbinder und Wenders, vom US-amerikanischen Film gelernt. Volker Schlöndorff drehte - bis in die Neunzigerjahre - Literaturadaptionen, zunächst nach deutschen Vorlagen, so »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« (1975) und »Die Blechtrommel« (1979), die teuerste Produktion der Siebzigerjahre. Mit seinen Geschichten von empfindsamen, ziellos reisenden Männern in »Alice in den Städten« (1974) und »Im Lauf der Zeit« (1976) etablierte sich Wim Wenders als Regisseur von Roadmovies; auch mit einigen seiner späteren, in den USA produzierten Filme (»Paris, Texas«, 1984; »Bis ans Ende der Welt«, 1991) blieb er dem Genre treu.Rainer Werner Fassbinder, der in den Siebzigerjahren 15 Spielfilme und fast ebenso viele Fernsehfilme inszenierte, experimentierte mit verschiedenen Genres und Stilen: »Liebe ist kälter als der Tod« (1969) und »Katzelmacher« (1969) sind karge, realistische Schwarzweißfilme über kleine Kriminelle, »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« ist dagegen ein opulent ausgestattetes Kammerspiel. Fassbinders Filme zeigen die Verlogenheit des saturierten, liberalen Bildungsbürgertums und die Qualen der Ehe. Häufig stehen unterdrückte Frauen im Zentrum seiner Filme. Doch Fassbinders distanzierte Erzählweise mobilisiert wenig Emotionen, seine präzisen Analysen neurotischer Abhängigkeitsverhältnisse verweisen stets auch auf die Mitschuld der Schwächeren. Um Frauenschicksale geht es auch in seinen Filmen über den Nationalsozialismus (»Lili Marleen«, 1981) und die westdeutsche Nachkriegsgeschichte (»Die Ehe der Maria Braun«, 1978; »Lola«, 1981; »Die Sehnsucht der Veronika Voss«, 1981), die Fassbinder, der bereits 1982 im Alter von 37 Jahren starb, zum international erfolgreichsten Regisseur des »neuen deutschen Films« machten.Eine andere Art von Heldinnen porträtierten die Regisseurinnen des »neuen deutschen Films« Ula Stöckl (»Neun Leben hat die Katze«, 1969), Helke Sander (»Die allseitig reduzierte Persönlichkeit - Redupers«, 1978), Helma Sanders-Brahms (»Deutschland bleiche Mutter«, 1979) und Margarethe von Trotta (»Das zweite Erwachen der Christa Klages«, 1978). Ihre Zugriffe waren dokumentarisch, ihre Filme der im Anschluss an die Studentenrevolte aufkommenden Emanzipationsbewegung der Frauen verpflichtet. Schnell als »Frauenfilme« abgestempelt, wurden sie jedoch allenfalls als Randerscheinungen des »neuen deutschen Films« wahrgenommen.In den Achtzigerjahren waren in Deutschland fast auschließlich Filme erfolgreich, die von der Fernsehpopulärität ihrer Stars profitierten. Seit Anfang der Neunzigerjahre erlebt aber die hiesige Kinoindustrie einen Aufschwung, der auch strukturelle Veränderungen nach sich zieht. Während Filme mit immensen Budgets den US-amerikanischen Markt dominieren, fanden in Deutschland unerwartet einige mit geringem Aufwand produzierte Komödien großen Publikumszuspruch. Vor allem »Der bewegte Mann« (1994) von Doris Dörrie löste einen wahren Komödienboom aus, in dessen Folge sich nach langer Zeit erstmals in Deutschland wieder genuine Kinostars etablieren konnten. Ob sich auf Dauer wieder eine eigenständige nationale Filmkultur mit einer Vielfalt an Formen und Themen wird entwickeln können, bleibt indes abzuwarten.Dr. Daniela Sannwald und Robert MüllerFilmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, herausgegeben von Thomas Koebner. 4 Bände. Sonderausgabe Stuttgart 21998.Geschichte des internationalen Films, herausgegeben von Geoffrey Nowell-Smith. Aus dem Englischen. Stuttgart u. a. 1998.Sachlexikon Film, herausgegeben von Rainer Rother. Reinbek 1997.
Universal-Lexikon. 2012.